Rezension Anette Mertens

Drehen auf der Töpferscheibe von Joachim Jung

Es war nicht nur eine Hürde zu nehmen in diesen turbulenten Zeiten, bevor Joachim Jung sein 352 Seiten und 1230 Abbildungen umfassendes Fachbuch endlich auf den Markt bringen konnte. Acht Jahre hat er an diesem Buch gearbeitet, das es auf ein Gewicht von zwei Kilogramm bringt und 26 Kapitel umfasst. Auf den letzten Metern, im Januar 2022, wollte sein Mammutprojekt beinah an einem Papierengpass scheitern. Mit einem anerkennenden Vorwort von Gustav Weiß gewürdigt, ermöglicht diese dritte Auflage nicht nur einen noch umfassenderen Einblick in die Technik des Scheibentöpferns, sondern lässt den Leser auch die Entwicklung dieses Handwerks nachvollziehen …

Versuche in- und ausländischer Fachliteratur, diese außergewöhnliche handwerkliche Tätigkeit zu beschreiben, beschränken sich zumeist auf das detaillierte Vorgehen bei kleineren Gefäßen. Jene Autoren, die sich nebenher auch voluminöseren Objekten widmen, legen eher lückenhafte Vorgehensweisen dar. Moderne Literatur zum Scheibentöpfern beschränkt sich mehrheitlich auf eine mittlerweile weitverbreitete Technik, die für Gefäße bis etwa 30 cm Höhe und hauptsächlich im Laiensektor verwendet wird.

Das Grundlagenwerk Michael Cardews „Der Pioniertöpfer“, von Jung oft und begeistert zitiert, bleibt bei allgemeingültigen Aussagen über das Drehen, da es das gesamte keramische Handwerk im Blick hat. Dennoch deutet er in seinem 1980 (englische Originalausgabe London 1969) erschienen Buch das Vorhandensein von Prinzipien an, deren klare Herausarbeitung und Beschreibung unter anderem den großen praktischen Wert von Jungs Publikation ausmacht.

Die von Jung präzise dagelegte Technik entstammt einem volkseigenen DDR-Betrieb, in dem der Autor ab 1970 seine Lehre absolvierte. Es gab zu jener Zeit keine maschinellen Herstellungsmöglichkeiten und mannshohe Gefäße, sowie simpelste Übertöpfe, wurden in hohen Stückzahlen auf der Töpferscheibe gedreht. Unter diesen Umständen hat sich eine effiziente Technik herausgebildet, die den Dreher befähigt, seinen Ton souverän zu handhaben. Wie er betont, wurde dem Lehrling diese Vorgehensweise von Anfang an vermittelt, indem er von Beginn an lernen musste, mit mindestens 3 kg Ton umzugehen. Jung musste die in dieser Werkstatt üblichen Griffe benutzen, um die Herausforderung mit möglichst geringer Kraftanstrengung zu meistern. In seinem Fachbuch spricht er von 8 kg Ton, die man mithilfe dieser Technik ohne Kraftanstrengung zentrieren kann. Hier wird bereits deutlich, welche Tragweite diese methodische Systematik hat, die er durch seine spätere Analyse des empirisch erlernten Drehvorganges erarbeitet hat. Die Anfertigung großer Gefäße erfordert eine besondere Verfahrensweise, mit der sich überdies auch kleine Objekte effektiver herstellen lassen. Da das umgekehrt keineswegs der Fall ist, verblassen die Grundlagen für das Großdrehen vor dem Hintergrund der heutigen Ausbildungsrichtlinien mehr und mehr.

Er stellt heraus, dass diese Tendenz unter anderem an den minimierten Anforderungen für die Gefäßhöhe bei Meisterprüfungen deutlich werde. Die Verkürzung der Lehrzeit, vor dem zweiten Weltkrieg betrug die noch sieben Jahre, sowie die Überschwemmung des Marktes mit Industrieprodukten verstärken diese Entwicklung.

Jung war es ein inneres Anliegen, das „Wissen der Alten“ zu dokumentieren und schriftlich festzuhalten. Neben der Technik zum Großdrehen ermöglicht sein Fachbuch nicht nur geringere Schadbilder beim Trocknen und Brennen, sondern zeigt, wie beispielsweise „Das Prinzip der Reihenfolge“ die manuelle Herstellung von Keramik mit einem erweiterten Formenkreis erlaubt, die die industriellen Produkte schon auf rein funktionaler Ebene in den Schatten stellt. Aber genau das ist ein wichtiger Aspekt, aufgrund dessen der Kunde ein Kunsthandwerk zu würdigen weiß und den höheren Preis akzeptiert.

Jung übergibt uns eine einheitliche Handlungsanleitung für das Drehen aller Gefäßgrößen und -formen im strapazierfähigen, griffigen Hardcover – ansprechend und praktikabel durch ein schnell überschaubares Inhaltsverzeichnis, grün hinterlegte Merksätze und einen ausführlichen Index. Das Lehrbuch besticht durch seine didaktische Systematik und die akribische Zuordnung der Abbildungen. Die ersten acht Kapitel widmen sich Grundsätzlichem und der allgemeinen Arbeitsweise. Das 9. Kapitel beinhaltet die Essenz – die Grundprinzipien. Bei eingehendem Studium erschließt sich die Komplexität: Das Kneten, das Zentrieren, der Knöchelzug und selbst das Henkeln tragen denselben Vorgang in sich – insbesondere ablesbar in den Kapiteln „Prinzip des kürzesten Weges“, „Prinzip der Scherung“ und „Grundlegende Zwischenformen“. Solche Leitideen bündelt das Fachbuch als gesicherte Erkenntnis.

Aus pädagogischer Sicht gewagt, ist das Zeigen fehlerhafter Abbildungen und Handgriffe, was für die Beweisführung jedoch unerlässlich zu sein scheint. Fehler sind zwar deutlich als solche kenntlich gemacht, mögen aber den einen oder anderen Leser verwirren, zumal auch die Symbole für Fehler und halbe Fehler gewöhnungsbedürftig sind.

Dass dieses Fachbuch für das Handwerk des Drehens ein unverzichtbares Referenzwerk ist, habe ich persönlich schon bei der Lektüre und Anwendung der ersten Auflage des Buches 1989 erfahren, denn die damals kürzer ausgearbeiteten Beschreibungen und die überaus nützliche, als Plakat beigefügten, Fotodokumentation aufeinanderfolgender Handgriffe des Drehers war enorm hilfreich beim Erlernen einer feinen und funktionierenden Technik. Natürlich hat das Lernen aus Büchern seine Grenzen: Diese Drehtechnik in rein autodidaktischer Form anhand des Buches erlernen zu wollen, wäre wahrscheinlich schwierig, aber da Jung jährlich mehrfach Kurse anbietet, wäre ein solcher Lehrgang ein empfehlenswerter Einstieg.

Absolut spannend an Jungs Buch ist auch ein weiterer Teil, in welchem er mit großer Genauigkeit und Vielfalt ausgewählte Drehtechnologien beschreibt. Von diesen „Tricks und Kniffen“ kann man sonst kaum noch etwas erfahren. Die Darstellung dieser traditionsreichen phantasievollen Aspekte des Töpferhandwerks sind ausgesprochen inspirierend und tragen gewiss auch zum Erhalt „alter Techniken“ bei. Es geht, um nur einige zu nennen, z.B. um das „Lommeln“, das „Driften von eingeschnittenen Mustern“, Drehen doppelwandiger Gefäße oder Gewinde, Nuten und Federn.

Darüber hinaus beinhaltet Jungs Buch auch eine reich bebilderte Darstellung „Funktioneller Keramik“. Diese reicht von Arbeitsbeschreibungen zur Herstellung bewähter Gegenstände wie: Brattopf, Einlegetopf, gedrehte Brotbackformen, Butterdosen, die nicht in den Kühlschrank müssen, Wasserkühler, Destillen, Mörser und Siebe. Eine Auswahle spezifischer Gefäßformen und die Besonderheiten ihrer Herstellung regt ebenfalls dazu an, sich gleich an die Töpferscheibe zu setzen. Er zeigt, wie man Stehaufmännchen, Hohlhenkelgefäße, Amphoren, Waschbecken, Lampen und Musikinstrumente drehen kann. So erklärt er neben den Prinzipien des Drehens auf der Töpferscheibe anhand von Fotos, Zeichnungen und Texten die Herstellungstechniken und alle wesentlichen Merkmale dieser nützlichen, sinnvollen Gefäße und Alltagsgegenstände aus Keramik.

Leser seines Lehrbuches sind zum einen Töpfer, die ihre persönlichen Fähigkeiten entwickeln wollen, zum anderen Profis, die das Wissen des Fachgebietes weitergeben (die Vermittlung war schon immer ein Stiefkind dieses Handwerks). Ausbildern legt er nahe, zugunsten der Qualifizierung von einer Produktion des Lehrlings im Sinne betrieblicher Wertschöpfung abzusehen, denn das ist bei dieser didaktischen Strategie anfangs ausgeschlossen. Aber dafür können Gesellen in einer fundierten Ausbildung allseitige Fähigkeiten entwickeln, die dem Töpferhandwerk an sich wieder zu Gute kommen.
Fazit: Dieses Buch ist absolut hilfreich und inspirierend – eben ein echtes Standardwerk.

Anette Mertens
Sinologin, Ethnologin, Keramikerin
www.china-at-work.de