Kunsthandwerk am Sterben

Kritik am Gesetz zur Mindestentlohnung von Auszubildenden
– Eine kritische Situationsbewertung von Joachim Jung

Die Ausbildung von Lehrlingen wurde ab 1. Januar 2020 zu teuer und unfinanzierbar für kleine Unternehmen, wie auch das meine, Joachim Jung, Diplomkeramiker mit Werkstatt in Glashagen/MV.

Zum Mindestlohn von Azubis – ein kritischer Blick

„Die Lehrlinge sollen besser bezahlt werden“ – mit dieser Aussage wurde das neue Gesetz zur Mindestentlohnung von Auszubildenden schon vor einigen Jahren angekündigt und gerechtfertigt. Leider offenbart sich diese vermeintlich positive Aussage bei genauer Betrachtung als Lüge.

Lehrlinge auszubilden, ist seit dem 1. Januar 2020 zu teuer und für kleine Unternehmen, wie auch das meine, nicht mehr finanzierbar. Aus der aktuellen Gesetzeslage ergibt sich: Pro Lehrling habe ich jetzt mit Krankenversicherung und Nebenkosten fast 900,- € Ausgaben – das kann kaum eine Töpferei leisten. Nicht nur die Keramik, etliche handwerkliche Kleinbetriebe sind betroffen, wobei Kunsthandwerker zumeist schon am Existenzminimum leben. Wenn sie ihr Wissen nicht mehr an Lehrlinge weitergeben können, sind diese Berufe dem Niedergang geweiht. Ein elementarer Teil unserer Kulturlandschaft geht somit verloren.

Vor diesem Gesetz unterstützte der Staat den Azubi, je nach Vergütung durch den Lehrbetrieb, bis zur Höhe von etwa 680,- € mit Berufsausbildungsbeihilfe (BAB). Das konnte man durchaus als kulturellen Beitrag von staatlicher Seite anerkennen. Muss also die neue Mindestentlohnung vom Betrieb gezahlt werden, spart der Staat ordentlich Geld – sogar zweimal, durch die einbehaltenen Abzüge.

Wenn der Betrieb nur wenig zahlt, muss dieser den kleinen Krankenkassenbeitrag allein tragen. Der Auszubildende hat Netto wie Brutto. Seine BAB wurde nicht durch Abzüge gemindert. Bei den jetzt vorgeschriebenen Entlohnungen, zahlt der Auszubildende, wie jeder andere Angestellte auch, den Eigenanteil an Krankenkasse etc.. Jeder kann sich selbst ausrechnen, dass der Lehrling nun weniger Netto hat als vor dem Gesetz. Die Gesetzgebung mit „Die Lehrlinge sollen besser bezahlt werden“ zu begründen, ist eine unglaubliche Verdrehung der Tatsachen !

Der Auszubildende erhält keinen einzigen Euro mehr als vorher, sondern sogar weniger.

Auch die Berufsschulen für Keramiker werden auf Grund der neuen Gesetzeslage schließen müssen. Denn es gab deutschlandweit bereits derart wenig Lehrstellen in der Keramik, dass die Jahrgänge an den Berufsschulen zusammengelegt werden mussten, damit die Klassenstärken ausreichten. Die damalige Ministerin äußerte in einem Interview zur Novelle des Berufsbildungsgesetzes (BBiG), dass diese nach aktuellen Erkenntnissen wohl nicht zu einem geringeren Ausbildungsangebot führen werde. Fakt ist: Durch die Neuregelung bilden kleine Betriebe nicht mehr aus. Die Zahl der Lehrlinge im Kunsthandwerk sinkt drastisch. Diese Auswirkung ist bereits überdeutlich zu spüren.

Im Ministerium ist man überdies der Ansicht, die Leistung des Lehrlings solle respektiert und seine Wertschöpfung honoriert werden.

Nun gibt es viele Berufe, in denen Lehrlinge direkt als Arbeitskraft eingesetzt werden können. In einem keramischen Handwerksbetrieb ist jedoch der Zeitaufwand für das Üben erheblich. Die drei Jahre sind als Lehrzeit gedacht und nicht als Produktionszeit. Im zukünftigen Berufsleben sind die handwerklichen Grundlagen nicht mehr nachholbar. Funktionstüchtiges Geschirr kann ein talentierter Lehrling zumeist erst am Ende des dritten Lehrjahres herstellen – insbesondere in Werkstätten, die Wert auf eine tiefgründige, allumfassende Ausbildung legen und nicht nur touristische Mitbringsel produzieren. So betrachtet, verwundert es nicht, dass eine Töpferlehre vor dem zweiten Weltkrieg noch sieben Jahre dauerte. Ein derart ausgebildeter Geselle konnte wirklich etwas und war vor allem entwicklungsfähig.

Die heutige allgemeine Lehrmethode ist voller Zugeständnisse. Zum Beispiel wurde die Prüfungsordnung für Meister „angepasst“. 1970 musste ein Prüfling ein Gefäß von 70 cm Höhe vordrehen. Jetzt begnügt man sich mit ca. 40 cm, da das Großdrehen nicht mehr gelehrt wird. Seit der Lehrzeitbeschneidung üben Einsteiger mit etwa 300 – 500 g Ton, damit sie beizeiten kleine Gefäße herstellen können. Verständlich, denn das gezahlte Lehrgeld soll erwirtschaftet werden. Hinzu kommt, dass größere, handgemachte Objekte nicht mehr den gewünschten Absatz haben. Importierte Billigprodukte und industriell gefertigte Waren führten zu einem Prestigeverlust traditioneller Kulturgüter, was durch die mangelhafte Qualität der kulturellen Bildungsinhalte in den Schulen noch befördert wird.

Eignet sich der Lehrling die übliche ergebnisorientierte Drehmethode an, die seine Ausbildung für den Betrieb rentabel macht, ist er später als Geselle nicht in der Lage, große, spezielle oder komplizierte Gefäße herzustellen. So gehen die alten Techniken, das alte Wissen und mit ihnen das traditionelle Handwerk mit seinen Meisterstücken verloren. Auch bemerke ich eine zunehmende Unfähigkeit der jungen Generation, die Hände universell einzusetzen.

Mit der in meinem Buch dokumentierten Drehtechnik für große Gefäße können auch alle anderen Gefäßgruppen produziert werden. Deswegen bekommen meine Azubis von Anfang an mindestens 3 kg Ton in die Hände. So habe ich es auch gelernt. Zwar dauert es auf diese Weise Jahre, bis die notwendigen Techniken sitzen, aber von einem Geiger erwartet auch niemand, dass er nach 3 Jahren im Sinfonieorchester mitspielen kann.

In der dritten Auflage meines Fachbuches (erschienen 2022 – auch in englischer Sprache geplant) beschreibe ich eine spezielle Drehtechnologie, die den Töpfer befähigt, Gefäße in Überlebensgröße anzufertigen. In über 50 Jahren Berufserfahrung habe ich diese, mir vermittelte Methode weiter verfeinert und schriftlich festgehalten. Weltweit ist mein Fachbuch das einzige mit diesem Inhalt und stößt daher auf reges Interesse. Weiterhin lege ich dar, wie sich gute Qualität bei Gebrauchsgeschirr bemerkbar macht und erfahrbar ist. Da Kunden solche Eigenschaften zu schätzen wissen, bescheren sie den Töpfern mehr Umsatz. Derartige Keramik stellt das Industriegeschirr weit in den Schatten. Jedoch muss man den Kunden auf solche praktischen und nützlichen Qualitäten hinweisen, weil sie zumeist in Vergessenheit geraten sind. Industriell ist Geschirr mit solchen funktionellen Eigenschaften, wenn überhaupt, nur unter erheblichem Kostenaufwand herstellbar. Der Verbraucherpreis wäre am Ende ähnlich hoch, wie bei einem handgemachten Gefäß – ein echter Pluspunkt für die Handarbeit. Selbst scheinbar hohe Preise von Kunsthandwerk relativieren sich bei genauer Betrachtung. Für aufgeklärte Kundschaft haben sie ohnehin keinen hohen Schwellenwert. Die Beratung der Kunden ist enorm zeitaufwändig, spart aber wiederum Zeit an anderen Stellen. Zum Beispiel ist der Töpfer nicht gezwungen, auf Märkte zu fahren. Das ist zumindest meine Erfahrung.

Es gibt eine staatlich geförderte Keramikerschule, deren Lehrplan in der vorgeschriebenen Ausbildungszeit lediglich acht Übungsstunden wöchentlich an der Töpferscheibe vorsieht. Genau das führt zur Herabsetzung der Prüfungsanforderungen, wie oben beschrieben. Traditionelles, professionelles Kunsthandwerk wird mehr und mehr in eine gesellschaftliche Nische gedrängt. Das Gleiche gilt übrigens auch für Naturheilverfahren und deren Berufe, die, laut einer Gesetzesinitiative, verboten werden sollen.

Mit den Bemühungen, eine Lanze für das Handwerk zu brechen, ist es nun vorbei. In den letzten 30 Jahren waren ständig drei bis sieben Lehrlinge in meiner Werkstatt zugegen. Um benötigtes Personal auszubilden, wäre eine Investition in die Nachfolge wirtschaftlich korrekt. Jedoch ist meine Motivation eine andere: Ich möchte das Handwerk erhalten. Das wollten die meisten der wenigen Kollegen, die noch ausgebildet haben, denn der betriebliche Umsatz ist mehrheitlich nicht ausreichend, um einen Gesellen bezahlen zu können. Das Gesetz zur Mindestentlohnung von Auszubildenden ist betriebswirtschaftlicher Unsinn. Kein wirtschaftlich arbeitender Betrieb kann jemanden bezahlen, der nichts produziert! Das geringste Übel wäre – Politiker haben nicht die leiseste Ahnung von solchen konkreten Problemen, die in verschiedenen Gewerken zwar unterschiedlich, aber vom Prinzip her ähnlich sind. Wir haben diesen vorhersehbaren Notstand vor! Inkrafttreten der Verordnung an die Gesetzgeber herangetragen – mit Unwissenheit ist der realitätsferne Beschluss also nicht zu entschuldigen. Im Gegenteil, die Politiker verschlossen alle Sinne ganz bewusst und waren nicht bereit, sich die Thematik überhaupt anzuhören. Die Handwerkskammer Rostock unterstützte das Anliegen, indem die Vertreter sich in einer halbstündigen Fernsehsendung eindeutig positionierten – jedoch, erwartungsgemäß, ohne Aussicht auf Erfolg. Die Maßnahmen der vergangenen Jahre und dieses unsägliche Gesetz lassen nur eine Schlussfolgerung zu: die Kulturlandschaft soll absichtlich zerstört werden …

Update 03/2024: Wie ich bereits 2019 angedeutet habe, werden jetzt die Berufsschulen, die bisher Keramiker und Töpfer ausbildeten, geschlossen bzw. die entsprechenden Fachbereiche aufgeben – dafür hier ein aktueller Beleg:


Bild: Joachim Jung an der Drehscheibe